Real - Abstrakt oder: von der vermeinten Wirklichkeit zum
Kunstwerk
Eine Betrachtung
von Dr. Christian Bendrath
Die Fotografie hat um ihren Status als
Kunstform lange ringen müssen. Ihre häufige Verwendung als privates
Erinnerungsfoto, öffentliche Pressefotografie, als Beweismittel etwa bei der
Geschwindigkeitskontrolle im Straßenverkehr, als Ziellinienfoto im Sport
oder auf einer Überwachungskamera, legte sie einseitig darauf fest, dass sie
nur die Wirklichkeit verdoppele und zwar genau so, wie diese angeblich
tatsächlich einmal gewesen sei.
So kommt auch die Redewendung vom
„fotografischen Gedächtnis“ zustande: Das zeichnet diejenigen Menschen aus,
die sich dauerhaft an das im Augenblick Wahrgenommene erinnern und das wie
abgelichtet Erinnerte jederzeit genau wiedergeben können. Künstlerische
Gestaltung wäre da eher störend; eine unzulässige Verfälschung der dann
nicht mehr justiziablen Genauigkeit.
„Foto
grafieren“ heißt – dem griechischen Wortsinn folgend – eigentlich: „mit
Licht schreiben“. Es handelt sich beim Foto wie bei der Schriftstellerei
also sehr wohl um künstlerische Gestaltung und eben nicht nur um das genaue
Festhalten eines besonderen Augenblicks oder historischen Moments. Mit der
Malerei teilt die Fotografie den Rahmen, den Ausschnitt aus einem viel
größeren Panorama, und die gewählte Perspektive. Schon der Eindruck enthält
dadurch Elemente künstlerischer Gestaltung, denn der Betrachtungspunkt wurde
zuvor bewusst gewählt.
Auf der Ausdrucksseite kommt noch mehr hinzu:
Mit einem Klick auf den Auslöser ist es nicht getan! Das, was da an
Lichtgestalten durch die Linse hindurchgeht und einen Film entsprechend
chemisch verändert oder auf einen digitalen Sensor aufschlägt und in
winzigen Bildpunkten erfasst wird, muss weiterentwickelt werden, bis es als
Fotografie bzw. als Abzug in die Hand genommen und immer wieder erneut
angesehen werden kann. Da wird gestaltet, nachgebessert oder bewusst
verfremdet und zwar genau so, wie der Entwickler die vom Auslöser erfassten
Lichtgestalten gestalterisch haben will.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie setzt das bunte
Lichtspiel vor dem Auge und auf seiner Netzhaut um in ein komplexes Spektrum
aus Grautönen zwischen Schwarz und Weiß als den Extremen. Die klassische
Farbfotografie verfremdet durch das verwendete Filmmaterial, dessen
chemische Eigenschaften zu neuen Farbintensitäten führen
können.
Die moderne Digitalfotografie hat noch
weitere Möglichkeiten der Bildbearbeitung. Und die haben sich Gabriele
Novak-Oster und Detlef Oster, die eigentlich passionierte
Schwarz-Weiß-Fotografen sind, zu eigen gemacht. Jeder einzelne Bildpunkt,
jede bewusst ausgeschnittene Menge von Bildpunkten kann nachbearbeitet
werden. Das eröffnet ein weites Spielfeld.
Dabei geht es nicht nur um die simple
Retusche etwa des körperlichen Makels eines abgelichteten Gesichts oder
eines im historischen Weichbild einer Stadt als störend empfundenen
Baukranes. Es geht um viel mehr als nur die nachträgliche Aufhübschung von
Familien- oder Urlaubsfotos per Photoshop. So können unsere beiden
Fotografen mittelst der computertechnischen Nachbearbeitung die
Bildbetrachter auf im Foto angelegte Perspektivlinien hinweisen oder auf das
berauschende Farbspiel aufmerksam machen, das wir mit unserem natürlichen
Auge nicht im planen Sehen, sondern erst mit zusammengekniffenen, ungläubig
blinzelnden Augen wahrnehmen würden.
Spiegelungen der auf der Fotozelle durch den
Klick des Auslösers festgehaltenen Lichtgestalten in Luft und Wasser können
entweder eigens herausgearbeitet oder bewusst hinzugedichtet werden. Das
merkwürdige Changieren der Farbtöne, das unser exaktes Beschreiben vor eine
schier unlösbare Aufgabe stellt, weil schon unser Nachbar ganz andere Farben
benennt, kann bewusst irritierend herausgemalt werden.
„Sehen
Sie selbst!“ Vielleicht haben die Aufnahmen, die rings um das Augustinum
Hamburg in Neumühlen und Oevelgönne direkt an der Elbe entstanden sind, mal
als Spiegelungen einer angeblichen Realität begonnen. In einem langwierigen
sowie künstlerisch und technisch sehr aufwändigen Entwicklungs- und
Bildbearbeitungsprozess sind nun aber eine Fülle von jeweils ganz
individuellen Abstraktionen der vermeintlichen Beweisfotos von einem sehr
schönen sowie sehr abwechslungsreichen Quartier Altonas entstanden, die in
dieser Präsentation vereint sind und vom geneigten Betrachter in abendlichen
Mußestunden betrachtet werden können: „Guten Abend, gute Nacht…“, dichtet
das Kunstlied von Johannes Brahms hinzu. Jede einzelne Abstraktion angeblich
nur abfotografierter Wirklichkeit lädt zu einer Entdeckungsreise ein, was da
vielleicht schon im ekstatisch-begeisterten Sehen, dann im kunstvollen Foto
so alles angelegt ist an Perspektiven, Gestalten, Farbspielen,
Lichteffekten, Dynamik und Stille, Bewegungssuggestionen und Ruhepolen.
„Real –
Abstrakt oder: von der vermeinten Wirklichkeit zum Kunstwerk.“ Werden Sie
Seite für Seite Zeuginnen und Zeugen am künstlerischen Prozess der
Bildentwicklung und ihrer unendlichen Möglichkeiten!
Zum Autor:
Dr. theol. habil. Christian Bendrath ist
Direktor des Augustinum Hamburg. Er hat in Kiel, Durham und München
Theologie und Philosophie studiert, in Kiel seine theologischen Examina
abgelegt, in München seine akademischen Grade erworben. Er ist als Pastor im
Kirchenkreis Winsen (Luhe) ehrenamtlich tätig. Seine Einsatzorte im
Augustinum waren die Seniorenresidenzen in Stuttgart, Bad Soden (Taunus),
Überlingen, Aumühle und Hamburg. Er arbeitet zudem im Vorstand der
„Gesellschaft für Neue Phänomenologie“ mit, die sich der Wahrnehmungslehre
des ehemaligen Kieler Philosophen Hermann Schmitz verpflichtet weiß.
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